Xenophons Bedeutung

Worin lag Xenophons Bedeutung für die großen Reitmeister und Reitschulen von der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert? Was macht zu dieser für uns heute noch so bedeutenden Quelle?

Dr. Klaus Widdra fasst dies in seinem Aufsatz folgendermaßen zusammen:

 

Xenophon verfügt über eine lebenslange, sehr intensive Erfahrung mit Pferden und Reiten. Er zeichnet sich zudem durch eine hervorragende Beobachtungsgabe und Diagnosefähigkeit aus und bemüht sich als geschulter Wissenschaftler, hinter die funktionalen Zusammenhänge der Phänomene zu kommen. Das erste Kapitel der „Reitkunst”, in dem es um das sog. Exterieur des Reitpferdes geht, ist ein Musterbeispiel dafür, wie der Autor die organische Ganzheit des Pferdekörpers sieht und jede Forderung an die Beschaffenheit einer Einzelpartie aus ihrem funktionalen Zusammenhang ableitet. In diesem Bemühen um die geistige Durchdringung seines Gegenstands und die daraus resultierende Form seiner Darstellung liegt Xenophons besondere Leistung. Der Vergleich mit dem Exterieur-Kapitel seines Vorgängers Simon, das als Fragment aus dessen „Reitkunst” in zwei Handschriften überliefert ist, zeigt dies überdeutlich. Noch heute ist man gut beraten, wenn man beim Pferdekauf Xenophons Hinweisen aufmerksam folgt.
 

Aber es ist vor allem die ethische Grundhaltung, die uns Xenophons „Reitkunst” so wertvoll macht. Wie ein roter Faden zieht sich der Gedanke durch sein Werk „Dein Pferd sei zuverlässiger Freund, nicht Sklave”. Bereits in der ersten Aufzuchtphase des Fohlens soll psychologisch geschickt, alles darauf angelegt werden, dass das junge Tier „‘fromm’, an die Hand gewöhnt und menschenfreundlich ist“ (Reitk. 3.2). „philanthropos“ soll das Pferd sein. Hier wird ausdrücklich von Liebe zum Menschen gesprochen. Ziel aller Ausbildung ist, dass „das Pferd gehorchen will“ (3.6). Denn Zuverlässigkeit und Gehorsam des Pferdes sind unerlässlich, daran lässt Xenophon keinen Zweifel: „Ein ungehorsames Pferd ist nicht nur unbrauchbar, sondern richtet häufig sogar des Gleiche wie ein Verräter an.” Es geht ja bei ihm um Dienstpferde bei der Kavallerie. Sie werden für den Kriegseinsatz in schwierigstem Gelände ausgebildet! Aber immer, selbst bei der höchsten Dressur, geht es um angstfreien, freudigen Gehorsam, geht es darum, dass das Pferd bei der Arbeit Freude empfindet und dies auch in seiner ganzen Körpersprache ausdrückt: (10.3 und 10.5).

Dazu empfiehlt Xenophon, der Ausbildung so viel Aufmerksamkeit zu widmen, als ginge es um den eigenen Sohn. Es komme darauf an, Körper und Seele des Pferdes gleichermaßen sorgfältig zu schulen. Nur so werde es sich durch Leistungsvermögen und Zuverlässigkeit auszeichnen. Denn das Pferd „muss eine hochgesinnte Seele und einen kräftigen Körper haben.“ (11.1) Sorgfältige Gymnastizierung und intensives Training sollen dafür sorgen, dass der Körper leistungsfähig und gesund ist.

Die Übungen müssen sorgsam vom Leichten zum Schwereren fortschreiten. Dabei ist unbedingt darauf zu achten, dass die Pferde nicht überfordert werden. Außerdem müssen Ausbildung und Schulung so angelegt sein, dass das Pferd auch mit intensiven Stresssituationen unterschiedlicher Art gut fertig wird, also, wie Xenophon sagt (3. 7), eine „gefestigte Seele” hat. Stresssituationen solle man gezielt aufsuchen und sie dem Pferd als völlig harmlos darstellen. Ein Extremfall für Kavallerie-Pferd und -Reiter dürfte ein plötzlicher Alarm mit Trompetensignalen, Geschrei, Waffenlärm und allgemeiner Hektik gewesen sein. Eine solche Nervenbelastung soll in Manövern gezielt herbeigeführt und für das Pferd nachhaltig entschärft werden. Xenophon empfiehlt dazu, „eine Rast (zu) machen und, wenn es möglich ist, dem Pferd sein Morgen- bzw. Abendfutter (zu) reichen.“ Viele Turnierreiter wären heute ausgesprochen gut beraten, wenn sie diesen Hinweis Xenophons ernst nähmen. Ihr ängstliches Bestreben, jeden bei der Arbeit evtl. störenden Sinneseindruck zu verhindern oder zu vermeiden, macht die Pferde zu übersensiblen, hochexplosiven Nervenbündeln. Und die „nicht gefestigte Seele” führt den einen oder die andere Reiterin heute bei Turnieren in Versuchung, starke Psychopharmaka als Abhilfe einzusetzen und sich damit schweren Dopings schuldig zu machen.

Überhaupt ist die charakterliche Prägung des Pferdes wichtig! Auch dieser Gedanke zieht sich wie ein Leitfaden durch das ganze Buch. Psychagogie, psychologische Seelenlenkung, ist durchgehendes Ausbildungsprinzip. Es komme darauf an, das Pferd von seinen ersten Lebenstagen an so zu prägen, dass es zum Menschen tiefes Vertrauen fasst, ihn respektiert und ihm gehorcht, ja den Menschen geradezu liebt, also philánthropos wird. Und dass Xenophon das tatsächlich sehr wörtlich meint, zeigt der Schluss des Paragraphen 3 von Kapitel 3: Wenn die Frühausbildung des Fohlens konsequent so angelegt wird, „werden die Menschen notwendigerweise von den Fohlen nicht nur geliebt, sondern auch sehnlich herbeigewünscht.“

Bei der Fohlenaufzucht empfiehlt Xenophon, darauf zu achten, dass das junge Pferd alle elementaren negativen Erfahrungen wie Hunger, Durst, Insektenplage in Abwesenheit von Menschen macht und dass umgekehrt die Behebung dieser Negativzustände als Menschenleistung erfahren wird. Der heimische Stall mit seinem Schatten, die kühle Tränke und die volle Krippe leisten hier erstaunlich positive Wirkung.

Aber auch erwachsene Pferde lassen sich bei nur etwas pädagogisch-psychologischem Geschick erstaunlich erfolgreich konditionieren. Nur ein Beispiel: Legt man dem Pferd die Trense nicht nur auf, wenn es zur Arbeit geht, sondern auch, wenn man es zum Fressen, auf den geliebten Wälzplatz oder nach der Arbeit in den Stall führt, wird es „von selbst hastig nach dem vorgehaltenen Mundstück schnapp”en. (6.11). Frappierend! Und wenn man es dann lobt und ihm obendrein noch eine materielle Belohnung zukommen lässt, wird dies seine Begeisterung für die Trense weiter steigern. (8.14)

Überhaupt macht geschicktes, konsequentes Belohnen fast alle Zwangsmittel überflüssig. „Denn das Pferd wird das Gebiss eher annehmen, wenn ihm jeweils etwas Gutes zuteil wird, sobald es dieses nimmt. Und es springt sicherlich über Gräben hinweg und aus (Senken) heraus und leistet alles andere, wenn es eine Erleichterung erwarten kann, sooft es das Verlangte getan hat.“ (8. 14) Auch für die richtige Beizäumung gilt dieses Prinzip: „Hebt ein Pferd bei einer Aufwärtsparade den Nacken, so muss man ihm sofort mit dem Zügel nachgeben. Und im übrigen muss man, wie ich nicht ablasse zu betonen, das Pferd belohnen, wenn es eine Übung gut macht. Wenn man merkt, dass sich das Pferd über die hohe Haltung des Halses und über die Weichheit (der Hand) freut, darf man in diesem Fall dem Pferd nichts Unangenehmes zufügen, als wollte man es zur Arbeit zwingen, sondern muss es klopfen, als wollte man aufhören“. (10. 12 f.)

Freundliche Worte, ein Streicheln oder Klopfen und vor allem eine Schrittpause als Belohnung wirken Wunder.

Es ist nach Xenophon besonders wichtig, dem Pferd das Gefühl zu ersparen, es werde zu etwas gezwungen. „Was ein Pferd nämlich unter Zwang tut, so sagt auch Simon, das beherrscht es nicht, noch sieht das in irgendeiner Weise schöner aus, als wollte man einen Tänzer durch Peitschen und Stacheln (zum Tanzen) zwingen. Viel eher würde jeder, dem so etwas widerfährt, eine schlechte als eine gute Figur machen, sei es nun ein Pferd oder ein Mensch. Es muss vielmehr all seine schönsten und prächtigsten Leistungen auf Grund von Hilfen freiwillig vorweisen.” (11. 6) Zwang führt zu Widerstand, Widerstand zu noch mehr Zwang und endet meist in offener Konfrontation. Siegt der Reiter in einem solchen Kampf, so ist das Pferd „geknickt”, wird oft sogar nachhaltig in seiner Psyche geschädigt. Und wiederholen sich solche Konfrontationen, so besteht die Gefahr, dass es aus einem Philanthropen zu einem Misanthropen wird. Verliert der Reiter die Auseinandersetzung, so verliert er seinen Rangplatz an das Pferd und wird künftig von ihm missachtet und drangsaliert. Konflikte müssen daher im Entstehen deeskaliert werden. Ein heftiges, erregtes Pferd darf man nicht über Zügeleinwirkung und reiterliche Gewalt zur Ruhe bringen wollen. (9. 5)

Unbedingt verbindlich bei der Arbeit sollte Xenophons Forderung sein (11.6): „Es muss vielmehr all seine schönsten und prächtigsten Leistungen auf Grund von Hilfen freiwillig vorweisen.“

Dem Pferd „Hilfen zu geben” setzt voraus, dass das Pferd die „Hilfen” auch verstehen kann. Dazu muss der Reiter sich seinem Pferd verständlich mitteilen. Es muss seine „Sprache“ auch verstehen können! Belohnung und Strafe sind die einzigen Erziehungsmittel. Aber Belohnung hat unbedingt Vorrang. Xenophon beharrt geradezu darauf, jede besondere Leistung und jeden Lernfortschritt zu belohnen - am besten, indem man dem Pferd eine Pause gönnt oder die Arbeit beendet: „Erleichterung“, „Entspannung“, „Arbeitsende“ - Stufen der Belohnung!!! Die von Xenophon empfohlene häufige Unterbrechung der Arbeit sorgt dafür, dass sich das Pferd dehnen kann, dass sich Atmung und Puls beruhigen und sich so die richtigen Trainingsintervalle ergeben, die für einen gezielten Muskelaufbau unabdingbar sind. Kurze Reprisen mit anschließenden kurzen Pausen - so lehrt es die moderne Trainingslehre - sind das wirksamste Mittel. Robert Stodulka empfiehlt in seiner Medizinischen Reitlehre, selbst bei hoch ausgebildeten und gut trainierten Pferden „jede Trainingseinheit mit einem ruhigen Vorwärts-Abwärts-Abtraben zu beenden.” Und es gilt darüber hinaus Xenophons Feststellung: „Nichts von allem, was das Maß überschreitet, ist für das Pferd oder den Menschen angenehm.”(10. 14)
 

Mit den Mitteln der Sprache lassen sich Lernprozesse nicht wirksam steuern, doch die Stimme ist ein wichtiges Hilfsmittel. Mit ihrer Hilfe kann man beruhigen, aufmuntern, anfeuern oder auch strafen. Für das Pferd wichtig ist dabei, dass dieselben Signale immer für dieselben Aufgaben verwendet werden. Xenophon empfiehlt, ein Schmatzen der Lippen zur Beruhigung einzusetzen, ein Schnalzen mit der Zunge zur Aufmunterung. Doch macht er darauf aufmerksam, dass man sein Pferd mit den gleichen Tönen auch genau umgekehrt „programmieren” könne.(9. 10) Über sein sonstiges Hilfensystem.erfahren wir bei Xenophon wenig. Doch gewaltsame Einwirkungen wie quetschende Schenkel oder zerrende Zügelimpulse haben bei ihm keinen Platz. Gegen den unsinnigen Einsatz von Zügeln, Sporen und Gerte bei der höheren Dressur verwahrt er sich ausdrücklich. Denn das Pferd kann diese „Hilfsmittel” nicht einordnen, nicht in ihrer „Zielrichtung” verstehen. Das führt notwendigerweise zu Irritation, Stress und Panik. Pferde, die solcher Behandlung ausgesetzt werden, lassen nur zu deutlich erkennen, wie sehr ihnen diese Art des Reitens zuwider ist und wie unwillig sie dabei werden. (10. 1f.)

Über Strafen sagt Xenophon so gut wie nichts, außer dass sie niemals im Zorn gegeben werden sollen. Denn der Zorn sei unberechenbar und ziehe unkontrollierbare Folgen nach sich.
 

Umso mehr sagt er über Belohnungen. Konsequentes Belohnen ist von größter Bedeutung. Und für das Wohlbefinden des Pferdes und für seine weitere Arbeitsfreude ist es nach meiner Beobachtung äußerst wichtig, ob das Pferd mit einem Erfolgserlebnis und dem Gefühl, dafür hohe Anerkennung gefunden zu haben, seine Tagesarbeit beenden kann. Das Prinzip Belohnen (und Strafen) ist für Xenophon so wichtig, dass er es nicht nur als krönenden Abschluss einer ganzen Ausbildungseinheit (Kapitel 7 und 8) formuliert, sondern es ausdrücklich durch die Feststellung unterstreicht „Und dies ist es, um es kurz zu sagen, was (uns) durch die ganze Reitkunst begleitet.“ Für uns ist dieses Prinzip der Verhaltenstherapie fast schon selbstverständlich. Nur sollten wir uns klar machen, dass es nicht im 21. Jahrhundert n. Chr. entdeckt wurde, sondern dass wir es möglicherweise Xenophon zu verdanken haben.
 

Unerlässlich ist nach Xenophon, dass man sein Pferd nicht langweilt. Die Arbeit muss immer wieder variiert werden und unterschiedliche Anregungen bieten; und dies nicht nur in der Bahn, sondern auch im Gelände, beim Springen und auf der Jagd.
 

Mit allem Nachdruck macht Xenophon deutlich, dass es nicht nur um die physische und psychische Ausbildung des Pferdes geht, sondern dass auch der Reiter an seiner eigenen körperlichen und charakterlichen Schulung nachhaltig arbeiten muss!
 

Der Reiter muss sich um einen korrekten, von der Bewegung des Pferdes unabhängigen Sitz bemühen, der ihm bei jeder Übung, jedem Tempo und in jedem Gelände ein kontrolliertes Einwirken auf das Pferd ermöglicht. Da es keine Sättel und keine Steigbügel gab, die dem Reiter Stütze oder Halt hätten geben können., kam es umso mehr darauf an, dass „der Reiter in verschiedenartigem Gelände - auch wenn er mit voller Kraft reitet - festen Sitz haben und vom Pferd aus die Waffen gut gebrauchen können muss”. (8.10) Erst ein gefestigter, gut ausbalancierter Sitz erlaubt die einhändige präzise Zügelführung und garantiert, dass es nicht zu unerwünschten Störungen des Pferdemauls kommt. Der elastische Sitz ist zudem unabdingbare Voraussetzung für Sicherheit und Erfolg in schwierigsten reiterlichen Situationen.
 

Doch auch psychisch muss der Reiter ausgeglichen und gefestigt sein. In Stress-Situationen, die auch das Pferd betreffen, muss er Ruhe bewahren, und seine Emotionen kontrollieren. Und er muss alles vermeiden, was den Eindruck erweckt, er selbst sei in Aufregung.

Freude soll durch diese prachtvolle Aufrichtung beim Pferd ausgelöst werden; und diese positive Empfindung soll der Reiter dadurch verstärken, dass er alles unterlässt, was beim Pferd den Eindruck erweckt, man wolle es zu etwas zwingen, statt dessen soll er es loben und streicheln und ihm das Arbeitsende signalisieren. Das Pferd wird seinerseits seine Begeisterung in energische Bewegung umsetzen. Wichtig ist, dass diese Freude an der Aufrichtung kein Eintagsprodukt ist. Auch hier ist Wiederholung und Gymnastizierung die Voraussetzung für den weiteren Erfolg. Dieser Ausbildungsstand muss erreicht sein, ehe Weiteres folgen kann. Xenophon macht das durch seine Eingangsformulierung in 10. 15 deutlich: „Wenn das Pferd dahin gekommen ist, dass es sich in stolzer Haltung reiten lässt“. Wovon er hier spricht, das ist ein dauerhaft erreichter Zustand, auf dem er weiter aufbauen kann. Und von 10. 15 bis 11. 13 legt er detailliert dar, wie er den in langer Ausbildung systematisch entwickelten Vorwärtsdrang seines Pferdes und dessen in langer Schulung erzielte Durchlässigkeit dazu einsetzt, über piaffe-artige Tritte in die Passage zu kommen. Das geschickt genutzte Zusammenspiel von treibenden, verhaltenden und nachgebenden Hilfen in Verbindung mit dem systematisch antrainierten Vorwärtsdrang bringt hier den gewünschten Erfolg. Und über die geduldige weitere Ausbildung des entsprechend geeigneten und trainierten Pferdes entwickelt Xenophon die Pesade und wohl auch noch die Courbette.
 

Auch bei der Höheren Dressur ist und bleibt also die positive Verstärkung durchgängiges Ausbildungsprinzip. Das Pferd soll sich anstrengen, doch sobald es einen Lernfortschritt zeigt, soll es seine verdiente Belohnung erhalten, indem der Reiter Erleichterung gibt oder gar die Arbeit schlagartig beendet.